Jugendliche bedrängen Trott-war Verkäufer: wie respektlos kann man bitte sein?

Floyd 7 Kommentare Gedankenfetzen

Am Freitag abend lief ich um 18 Uhr zur S-Bahn Haltestelle „Stadtmitte“, um nach Hause zu fahren. Auf dem Weg zur S-Bahn stand ein älterer Mann, ungefähr 60 Jahre alt und verkaufte den „Trott-war“. Von weitem sah ich, dass 3 Jugendliche vor dem Mann standen. Der Tonfall war sehr laut. Ich blieb in sicherer Entfernung stehen und beobachtete die Szene.

Je länger ich da stand, um so seltsamer wurde die Szenerie. Der Mann, ich nenne ihn jetzt mal Olaf, war gerade dabei, den Verkaufstag zu beenden. Irgendwann begann einer der Jugendlichen, Olaf am Arm zu berühren und ein wenig unsanft zu schieben. Eine absurde Szene. Für mich stand die Welt still, während Unmengen an Menschen in ihrer Hektik zur Bahn liefen oder von dort kamen. Freeze. Was tun?

Motiv aus der aktuellen Trott-war Kampagne
Motiv aus der aktuellen und sehr gelungenen Trott-war Kampagne

Diese verdammte Selbstüberwindung

Ihr kennt dieses affektive Ambivalenz, oder? Ein Teil von mir wollte die ganze Zeit einschreiten, ein anderer wollte sich selbst vor einer möglichen Gefahr schützen. Diese verflixten Gefühle. Als ich da stand wurde mir klar: sehr vielen anderen Menschen schien es ähnlich zu ergehen. Keiner wollte Olaf helfen. Da muss ich euch nichts vormachen: ich hatte gewaltige Angst. Dazu muss ich vielleicht erwähnen, dass ich durch meine Erscheinung anderen nicht unbedingt Angst einflösse, wenn ihr versteht was ich meine. Doch Olaf stand hilflos da.

So lief ich zu den vier Personen und fragte erst mal höflich, ob ich behilflich sein könnte? Das „Verpiss dich“ als Antwort nahm ich gelassen als jugendliche Standardantwort auf eine unangenehme Frage. Für den alten Tatort Trick mit „Die Kollegen kommen gleich“ war ich zu feige. Also sagte ich ruhig, aber etwas bestimmender: „Was wollt ihr von dem Mann? Lasst ihn einfach in Ruhe und geht bitte weiter!“ Ich sagte tatsächlich „Bitte“. Natürlich erhielt ich daraufhin breites Grinsen aus 3 Gesichtern, wobei eines mich fragte: „Und, was willste jetzt machen?“

Freiwillige finden

Gute Frage. Doch ich hatte das Glück, dass durch den Feierabendverkehr sehr viele Menschen unterwegs waren. Also versuchte ich andere Menschen zu ermutigen, sich zu uns zu gesellen. „Entschuldigung, könnten Sie uns kurz behilflich sein? Wir haben hier ein Problem. Olaf kann nicht nach Hause, weil ihn die Jungs hier in der Mangel haben.“ Das versuchte ich bei einigen Passanten und siehe da: sehr schnell fanden sich zwei „Freiwillige“. Ich war erleichtert. Ehrlich. Einerseits fühlte ich mich komisch, weil ich zwei Unbeteiligte mit in die Situation gezogen habe, andererseits schien das die Jugendlichen zum Abwägen zu bewegen. Anschliessend gab es noch das übliche kleine Wortgefecht, in dem Worte wie „Wichser“, „Penner“ und „Assoziale“ fielen. Kurz darauf zogen die Jugendlichen weiter.

Olaf hatte ich die ganze Zeit aus den Augen verloren. Er stand leicht hinter uns, wollte sich wahrscheinlich in Sicherheit bringen, was ich ihm nicht verübeln kann. Ich bedankte mich bei den beiden „Freiwillligen“, da sich die angespannte Lage durch ihr Handeln erst entspannen konnte. Diese winkten nur ab und wir verabschiedeten uns.

Was ist nun mit Olaf?

Olaf stand zittrig da und man konnte ihm die Angst ansehen. Wir unterhielten uns und ich versuchte ihn zu beruhigen. Olaf erklärte mir, dass die Jugendlichen seine Tageseinnahmen verlangten. Ganze 15,- Euro. Die hat Olaf in 8 Stunden verdient. Wo er denn jetzt hingehe, wollte ich von ihm wissen. Als Antwort bekam ich ein Achselzucken. „Weisst du nicht, wo du schlafen kannst?“ Olaf verneinte mit „Keine Ahnung.“ Ich bat die Polizei um Hilfe. Nachdem ich die Situation schilderte, empfahlen mir die Beamten eine Notunterkunft in Stuttgart Feuerbach. Olaf kannte sich in Stuttgart nicht wirklich gut aus.

Da ich ebenfalls nach Feuerbach musste, gingen wir zusammen weiter. Während der Bahnfahrt erzählte er mir, dass er seit einem Jahr in Stuttgart ist, vorher in Düsseldorf war, usw. Angeblich war er früher Immobilienbesitzer und seine Mieter haben ihn durch Mietprellungen auf einem Haufen Schulden sitzenlassen. Was davon wahr ist kann ich überhaupt nicht beurteilen, und es spielte für mich keine Rolle. Für mich zählte nur, dass Olaf im Warmen schlafen konnte.

Dankbarkeit

In Feuerbach angekommen begleitete ich Olaf noch zu der genannten Adresse der Notunterkunft. Vor der Türe verabschiedeten wir uns und er bedankte sich. „Mit mir wird es nie langweilig“, sagte er. Ich gab ihm noch etwas Geld, was er zuerst nicht annehmen wollte. Überhaupt wirkte Olaf sehr klar im Kopf, er roch nicht nach Alkohol, etc. Ich weiss, das klingt vielleicht sehr klischeehaft, aber ich gebe ungerne Menschen Geld, die das in Alkohol investieren. Bei Olaf hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass er sich am nächsten Tag ein leckeres Frühstück davon kauft. Oder eine Fahrkarte, um wieder zum Verkaufsstandort zu kommen. Oder oder oder… Ob das Gefühl stimmte ist sekundär.

Tschüß Olaf und danke, dass ich dich treffen durfte. Am Abend habe ich noch lange über dieses Erlebnis nachgedacht. Olaf, ich wünsche dir nur das Beste!

P.S. Kurz zu Trott-war

Ja, ich halte Trott-war wirklich für eine unterstützenswerte Sache. Vielleicht sollte man sich einfach mal eine Ausgabe kaufen. Mit 1,75 EUR ist diese ja, verglichen mit dem restlichen Zeitschriftenmarkt, sehr günstig. Trott-war schreibt übrigens auf der Internetseite:

Trott-war-Verkäufer kann jeder werden, der über ein geringes Einkommen verfügt oder wohnungslos ist.

Einen fairen Start bietet Trott-war mit den ersten zehn Zeitungen, die zusammen mit der Verkaufsausrüstung (Kittel, Ausweis, Tasche) gratis zur Verfügung gestellet wird: das Startkapital. Alle weiteren Zeitungen müssen für 0,85 Euro im Vertrieb eingekauft und auf der Straße für 1,70 Euro verkauft werden. So erhält der Verkäufer die Hälfte des Heftpreises: Er verdient pro Zeitung 0,85 Euro.

Die Trott-war-Verkäufer bestimmen selbst über ihre Arbeit. Sie legen fest, wann, wie lange und wie oft sie verkaufen. Die Vorgaben des Trott-war-Vertriebs beziehen sich allein auf das „Wie“ des Verkaufs:

Während des Verkaufs dürfen die Verkäufer nicht betrunken sein, nicht unter Drogen stehen und nicht betteln.

7 Meinungen zu “Jugendliche bedrängen Trott-war Verkäufer: wie respektlos kann man bitte sein?

  1. Toll gemacht, Floyd, es macht stolz zu hören was Du getan hast.

    Man muss nicht eben mal die ganze Welt retten, kleine Überwindungen aus der eigenen Komfortzone heraus machen einen riesigen Unterschied.

    Es freut mich auch, dass andere sich dazu holen liessen… das ist ja auch oft so eine Angst, dass man plötzlich in einer Situation drin ist und andere sich dann eben nicht weiter scheren…

    Ach, einfach schön. Danke. The force was with you ;-)

  2. @Anne: das größte Glücksgefühl war, dass es „Olaf“ gut ging. Klar, es kostet Überwindung, aber ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass ich am nächsten Tag vielleicht schon wieder nicht gehandelt hätte. Das ist immer so eine schwierige Entscheidung und eigentlich bin ich da schon eher der „Angsthase“. Irgendwie war die Kombination der Erlebnisse sehr stark. Als ich ihm das Geld gab habe ich zum ersten Mal seit langer langer Zeit eine tiefe Dankbarkeit für das eigene Leben empfunden. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass wir alle ein Dach über dem Kopf haben, etc. Ja, natürlich ist einem bewusst, dass es Obdachlose gibt, dass es Armut gibt, etc., aber häufig sind diese Menschen so an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden, dass sie vom restlichen Teil der Gesellschaft kaum mehr wahrgenommen werden. So ein persönliches Erlebnis hilft dabei ungemein. Wie ich das in Zukunft in positiven Handlungen umsetzen soll weiss ich noch nicht. Aber es ist auf alle Fälle erst mal in meinem Kopf abgespeichert und nicht vergessen.

    @Anonym: Der Dank gehört den anderen beiden „Freiwilligen“, die sich dazugesellt haben. Wenn auch nicht ganz freiwillig, so doch mit einer Portion Mut. Was wieder einmal beweist: gemeinsam funktioniert eben alles besser.

    1. Sei dir sicher, hättest du mich angesprochen wäre ich sofort dabei gewesen (wobei ich hoffe dass du mich erst garnicht hättest ansprechen müssen).
      Es gibt also noch viele Andere da draussen die dir geholfen hätten.
      Diese Aussage soll dich darin bestärken es wieder zu tun.

  3. Respekt und Anerkennung.
    Mit der Zivilcourage ist leider nicht mehr so gut bestellt.
    Man muss wirklich Angst haben, nicht selbst eins auf die Mappe zu bekommen. Daher kann ich Dein Zögern sehr gut verstehen.

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