Öde an Herrn Turner und die CDU in Stuttgart – OB-Wahl 2012

Floyd 4 Kommentare Polit(r)i(c)k

Oh Stuttgart, du einst so liebenswerte, verklemmte Stadt. Du machst mir Sorgen. Nächsten Sonntag wählst du für die nächsten 8 Jahre deinen König. Am Freitag durfte ich die extra für Herrn Turner eingeflogene Bundeskanzlerin auf dem Marktplatz begutachten. Frau Merkel sah ganz anders aus, als auf den Plakaten. Ich war überrascht.

Sebastian Turner, der ausserirdische Unternehmer – Bild von Sandrine Estrade Boulet

Was bin ich?

Beim Thema OB-Wahl kommt mir immer die Sendung „Was bin ich?“ mit Moderator Robert Lemke in den Kopf. Lemke und sein immer wiederkehrendes „Welches Schweinderl hättens denn gerne?“


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Damit wir uns nicht falsch verstehen: dieser Satz bezeichnet nicht die an der OB-Wahl teilnehmenden Kandidaten. Vielmehr steht er für die Entscheidung, vor der die wahlberechtigten Bürger stehen. Schließlich geht es bei Wahlen immer um die Inhalte der Kandidaten. IMMER! Für jeden nicht erfüllten Programmpunkt der Kandidaten dürfen die Bürger 5 Euro ins „Schweinderl“ werfen. Das würde der Stadt gefallen.

Das politische System krankt an seiner immer gleichen Vorgehensweise. Inzwischen haben sich die Themenfelder der unterschiedlichen Parteien angenähert. Es geht wie immer um Bildung. Jene Bildung, um die es auch schon vor 16 Jahren ging. Bürgerbeteiligung mit runden Tischen sind auch dabei. Toll. Kitaplätze. Schulsanierungen. Wow. Die Frage stellt sich, wie Stuttgart in den letzten Jahren so herunterkommen konnte. Und dieses Stuttgart macht sich nun Gedanken, ob ein „parteiloser“ Turner, oder aber ein grüner Kuhn für die Stadt besser wäre.

Parteilos nur auf dem Papier

Über Sebastian Turner konnte man bereits einiges nachlesen. Werber bei der Werbeagentur Scholz & Friends. Häufig wird Turner fälschlicherweise als Mitbegründer von Scholz & Friends bezeichnet. Nicht von irgendwem, sondern von der Stuttgarter Zeitung, den Stuttgarter Nachrichten und sogar dem Spiegel. Allesamt Meinungsmacher.

Sebastian Turner, der Macher?

Bernd Kreutz, seines Zeichens ebenfalls Werber, fragt in einem seiner Blogartikel sogar: Ist der Stuttgarter OB-Kandidat Sebastian Turner ein Lügner? Im Artikel beleuchtet Bernd Kreutz die Vergangenheit Turners bei Scholz & Friends und anderen Agenturen. Wie viele Arbeitsplätze hat Turner tatsächlich geschaffen? Waren seine Kreativleistungen tatsächlich kreativ?

Doch weiter: Scholz & Friends wiederum hat Kampagnen für Stuttgart 21 umgesetzt. Nichts Neues. Auch dass Sebastian Turner mit seiner Agentur der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) ihr Gesicht gegeben hat, steht ausser Frage. Zitat von Lobbypedia:

Die INSM ist eine Kampagne der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie, um im Interesse der Unternehmen für marktliberale Reformen zu werben. Dabei versucht die INSM, bürgernah aufzutreten und nicht als Arbeitgeber-Kampagne zu wirken. Lange Zeit trat die INSM mit folgendem Slogan auf: „Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ist eine überparteiliche Reformbewegung von Bürgern, Unternehmen und Verbänden für mehr Wettbewerb und Arbeitsplätze in Deutschland“. Diese Selbstbeschreibung war eine klare Irreführung.

Um das Klima für wirtschaftsliberale Reformen Anfang der 2000er Jahre zu verbessern, wurde auch die Reforminitiative „Deutschland packt’s an“ gegründet, zu dessen Initiatorenkreis auch Sebastian Turner zählte.


(Youtube Direktlink)

Wer nicht genau weiss, was diese Initiative Soziale Marktwirtschaft für einen Einfluss besitzt, sei folgendes Zitat von Feynsinn ein Hinweis:

Zur Erinnerung, um nur einige Leistungen des „Think Tanks“ zu nennen: Die INSM schreibt dem Finanzministerium die Texte, beherrscht die Talkshows, „versorgt“ Redaktionen mit selbst verfassten „Beiträgen“ und drückt – überparteilich – vielzitierte Slogans ins die öffentliche Debatte. Der bekannteste dürfte der Spruch „Sozial ist, was Arbeit schafft“ sein, ein Satz, der bei genauerer Betrachtung an Menschenverachtung nicht zu überbieten ist.

Eben jene INSM attackiert momentan die Energiewende. Macht die Energiewende sogar zu einem entscheidenden Thema für die Bundestagswahl 2013. Aus noch nicht vorhandener Vielfalt soll wieder Einfalt werden, und letztendlich werden den Energieriesen weiterhin die Gelder zugespielt.

Liebes Stuttgart, du erinnerst dich. In deinem neu entstehenden Rosensteinviertel sollen laut noch OB Schuster in der Stuttgarter Zeitung:

…die Häuser mindestens ebenso viel Energie produzieren wie sie verbrauchen. Ihre Heizungen dürfen keine Abgase ausstoßen. Sämtliche Baustoffe müssen wiederverwertbar sein.

Mit Sebastian Turner wird das kein Problem sein. Ehrlich. Everything under control.

Ein Parteiloser reicht

Dass Herr Turner natürlich parteilos ist, sein Wahlkampfbüro aber Gleichgesinnte anscheinend nicht so mag, zeigt der Erfahrungsbericht von Julia. Die wollte zum Besuch der Kanzlerin eine Karte für den abgesperrten Bereich. Also rief sie vorher im Wahlkampfbüro von Herrn Turner an (Karten gab es nur im Wahlkampfbüro und unter Vorlage eines Personalausweises), um ihren Besuch anzukündigen. Vor Ort aber bekam sie dann doch keine Karten. Zitat:

Die Frau mit der strengen Stimme am anderen Ende der Leitung wollte dann auch gleich wissen, ob ich CDU-Mitglied sei. Oder FDP- bzw. Freie-Wähler-Mitglied. Ich sagte ihr, dass ich genau wie auch Herr Turner parteilos wäre und dass ich als Bürgerin zu der Veranstaltung wolle, nicht wegen einer Partei. Das muss sie kurzzeitig überzeugt haben (dachte ich zumindest!), denn sie meinte, dass ich ja vorbeikommen könne.

Mit der Parteilosigkeit eines Kandidaten zu werben, scheint für die CDU der letzte Strohhalm in diesem Wahlkampf gewesen zu sein. Oder sollte das bereits die neue Offenheit der CDU sein? Wer ständig politische Unterstützung herankarrt, der überspielt dadurch nur die Defizite des eigenen „parteilosen“ Kandidaten. Traut man Turner intern diesen Posten nicht zu? Ist es wirklich nötig, dass Angela Merkel, Rita Süßmuth und Christian Lindner in Stuttgart für Turner werben? Der Start der Unterstützerreihe ging mit Frau Merkel jedenfalls ordentlich daneben. Wer sich die Reden von Sebastian Turner und von Angela Merkel anhört, wird sehr schnell bemerken, dass es die alltäglichen Plattitüden sind, mit denen geworben wird:


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Wer nach den Reden noch nicht verstanden hat, um wie viel es für die CDU bei dieser OB-Wahl geht, dem empfehle ich die Analyse der Haltung von Dr. Stefan Kaufmann. Herr Kaufmann hält die Eröffnungs,- und Abschlußrede. Er war es auch, der damals Herrn Turner überhaupt erst als OB-Kandidat ins Spiel gebracht hat. Einige Tweets verdeutlichen meiner Meinung nach, dass es für Herrn Kaufmann um einiges mehr gehen dürfte, als um eine einfache OB-Wahl. Es geht um Kaufmanns Position innerhalb der Partei. Zitat:

Nach der Wahl könnten weitere personelle Konsequenzen diskutiert werden. In der CDU gebe es Überlegungen, dass Kaufmann nach einer Niederlage von Turner als Vorsitzender zurücktreten müsse, verlautet es aus der Partei.

Die Metaebene des Bahnhofskonflikts und das Verständnis für die Wünsche der Bürger erreichen nur so viel Verständnis, solange es nicht an die eigene Position geht. Welche abstrusen Formen dieser verzweifelte CDU Wahlkampf annimmt, ist an Kaufmanns Twitter Stream ersichtlich:

Wer bei oben gesehener „Kundgebung“ (Anm.: gemeint ist die Veranstaltung, die im Video oben zu sehen ist) von tausenden UnterstützerInnen spricht, der muss auf einer anderen Veranstaltung gesprochen haben. Tut mir leid, aber die Kamera steht am Rande der Absperrung. Hinter der Absperrung die Gegner eines Bahnhofs, innerhalb der Absperrung die UnterstützerInnen von Turner. Das sind vielleicht 500 Personen, aber niemals Tausende! Ok, halten wir uns nicht an Kleinigkeiten auf. Weiterhin verbreitet Herr Kaufmann über Twitter folgendes:

Laut Herrn Kaufmann, Herrn Turner und der ganzen Veranstaltung war Herr Kuhn jahrelang vor der OB-Kandidatur für eine City-Maut. Nach Bekanntwerden seiner Kandidatur nicht mehr. Klar, in einer autoverrückten Stadt wie Stuttgart macht sich das nicht gut. Nun hat man nochmals neue Aufkleber für die Wahlplakate Turners geklebt, die besagen, dass das City-Maut Tagesticket 6,10 Euro kosten solle. Diese 6,10 Euro beziehen sich nicht auf Stuttgart, suggerieren dies aber. Dieser Preis wurde nicht von Herrn Kuhn festgelegt, sondern ist das Ergebnis der Verkehrsministerkonferenz, an der sich die Verkehrsminister aller Bundesländer trafen. Über die City-Maut herrscht indes in den Ländern keine Einigkeit.

Der Aberwitz an dieser Geschichte: Peter Ramsauer, seinerseits Verkehrsminister, wirbt seit Monaten explizit für eine PKW-Maut. In der Wirtschaftswoche wird Herr Ramsauer folgendermassen zitiert:

Ich werbe dafür, dass wir langfristig zu einer Maut bei allen Fahrzeugen kommen.

Sicherlich werden CDU-treue Anhänger sagen, dass dies ein exorbitanter Unterschied sei. Schliesslich müsse man ja nicht die Stadt verlassen. Und wenn, dann müsse man ja nicht auf den Autobahnen fahren. Das alles ist aber eine Milchmädchenrechnung. Beim einen soll der Autofahrer für die Nutzung von Autobahnen bezahlen, beim anderen innerhalb der Innenstadt. Wer einer City-Maut innerhalb Stuttgarts zustimmen müsste, das lässt Herr Kaufmann bewusst aus. In der grün-roten Landesregierung sitzt auch die SPD, die eindeutig gegen die City-Maut ist. Geschweige denn wird erwähnt, dass grundsätzlich zuerst auf Bundesebene eine Gesetzesgrundlage für die City-Maut gelegt werden müsste. Und wer sitzt da momentan? Die CDU und die FDP! Das ist Wahlkampf, yeah!

Doch damit immer noch nicht genug, denn Herr Schuster, noch OB Stuttgarts, meint, dass eine City-Maut nicht die Lösung ist. Jener Wolfgang Schuster, der selbst 2005 die Einführung einer City-Maut ins Gespräch brachte, aber an der IHK scheiterte. (Danke Mark für den Hinweis) Armselig ist das.

Die CDU meint: darum geht es uns nicht!

Doch darum geht es Herrn Kaufmann und dem Rest des Wahlmapfteams gar nicht. Sie möchten lediglich aufzeigen, was Herr Kuhn jahrelang gefordert hat und jetzt plötzlich nicht mehr. Es geht also um die Glaubwürdigkeit von Politikern? Wow. Diese Zauberer. It´s magic. Da haben sie ja ein Spezialgebiet gefunden. Wenn das der einzige Trumpf ist, den die CDU in der Hand hat, ist das noch dürftiger, als ich es erwartet hätte. Anders kann ich mir einen solchen Tweet von Herrn Kaufmann einfach nicht erklären:

Bam. Das hat gesessen, oder? Das „Kampf“ in Wahlkampf wird jetzt richtig ernst genommen. Und ganz ehrlich: wie froh bin ich, dass sich auch mal eine Partei wie die CDU in Stuttgart dazu herablassen muss, zu kämpfen. Doch verstanden haben sie nichts. Die Metaebene aus Stuttgart 21 blenden sie bewusst aus. Sie rennen wie die aufgescheuchten Häschen hin und her und fragen sich, was die Bürger dieser Stadt denn nur von ihnen möchten. In der Regel lässt man in solchen Fällen eine Umfrage erstellen. An dem Ergebnis richtet man anschliessend den neu erfundenen Politikstil aus. Diese Umfrage wurde bestimmt auch gemacht. Ergebnis: die Bürger wollen Bürgerbeteiligung. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit!

„Lügenpack“ Rufe beim Besuch der Kanzlerin auf dem Marktplatz in Stuttgart

Ja, die Menge war aufgebracht. Der Besuch der Kanzlerin war für nicht wenige Menschen das Ventil für viele Monate voller Frust und Fragen. Ich fand den Protest in der stattgefundenen Form völlig übertrieben. Auf der anderen Seite kann ich nachvollziehen, was Menschen dazu bringt, dieses hässliche Wort „Lügenpack“ zu rufen. Albrecht Müller hat hierzu bei den Nachdenkseiten den Artikel „Lügenpack!– Ist das Skandieren dieses Vorwurfs zu viel des Guten?“ geschrieben. Zitat:

Was sollen die Gegner von Stuttgart 21 noch anderes rufen? Sie sind hingehalten und belogen worden und man hat durch den Abriss von Teilen des Bahnhofs Fakten geschaffen, die jede Revision unmöglich machen – auch dann, wenn die Kosten weit über die gesetzten Grenzen hinweg steigen oder gravierende Mängel wie beim Brandschutz bekannt werden. Das Projekt verdankt seine Durchsetzung großen Interessen und einer professionellen wenn auch verlogenen Agitation – wie etwa der Behauptung, an der Durchsetzung von Stuttgart 21 zeige sich Deutschlands Zukunftsfähigkeit.

Um eines nochmal klarzustellen: persönlich finde ich diese Rufe nicht gut, man kann sie aber respektieren. Das ist eben auch Teil einer Demokratie. Mein Eindruck vom Freitag unterstützt die These der Nachdenkseiten. In manchen Augen sah man Wut, Verzweiflung und teilweise vielleicht auch Hass. Das ist nicht gut, jedoch kann man das auch nicht einfach so wegdiskutieren. Oder gar mit Turnerscher Leichtigkeit darüber hinweggehen, indem man auf einem Wahlplakat mit „Genug vom Streit? Turner wählen!“ wirbt. Das ist eine Verballhornung der Situation. Im Kessel brodelt es noch, Herr Turner wirbt für Bürgerbeteiligung, etc. und schliesst eine nicht unerhebliche Gruppe an Menschen somit bereits vorher aus.

Das ist nicht die Art der Bürgerbeteiligung, die sich ein Teil der Menschen in Stuttgart wünscht. Wenn von Ehrlichkeit die Rede ist, dann meint es gefälligst auch ehrlich. Dieses Taktieren und Geplänkel ist genau das, wovon die Mehrheit der Menschen die Nase voll hat. Auch bewusstes Schweigen kann eine Lüge sein, die später erst bekannt wird. So ist das.

4 Meinungen zu “Öde an Herrn Turner und die CDU in Stuttgart – OB-Wahl 2012

  1. Klasse Artikel, der leider leider am Ende viel zu harmlos mit der Misere S21 umgeht. Hier lese ich „Wutbürger“ raus oder?

    Der Protest völlig übertrieben? Das ist, in meinen Augen, völlig untertrieben. Eier und Tomaten hätten fliegen sollen. Nur der erbärmliche CDU Filz macht einen völlig funktionierenden Bahnhof zu Gunsten irgendwelcher CDU Spezln kaputt. Das kann man nicht laut genug sagen.

    Dass gelogen wurde und wird ist wohl nicht allen in Stuttgart bekannt, sonst wäre die Stadt sicher vor Demonstranten abgesoffen. Die Stuttarter haben aber meine 100 % Solidarität. Hey, da gehts um 4,5 Mrd. + ganz viel X. Ich hätte sicher 1 Jahr 180 Puls würde ich dort leben.

    Boah, die CDU kotzt mich so an.

    Ist meine Meinung, aber wirklich nur auf „völlig übertrieben“ bezogen.

    1. Erstmal danke für deinen Kommentar. „Wutbürger“ bin ich nicht, gegen diesen Bahnhof schon. Wie im Text bereits geschrieben, ich verstehe es, wenn viele Menschen in Stuttgart ohnmächtig, wütend, etc. sind. Ich respektiere, dass wer auch immer „Lügenpack“ genannt wird. ABER: ich sehe auch die übergeordnete Ebene des Konflikts, die mir momentan sehr viel wichtiger ist, als der Bahnhof. Eine ehrliche Einschätzung von mir: dieser Bahnhof kann von niemandem mehr gestoppt werden, ausser von der Bahn selbst. Traurig, tut weh, ist aber aus meiner Sicht so. Wie viel Geld damit begraben wird werden wir in ungefähr 15 Jahren wissen.

      Stuttgart 21 habe ich im Artikel absichtlich ausgelassen. Mir ging es um eine Klarstellung einiger fehlerhafter Fakten zur Person Sebastian Turner, die im Umlauf sind. In Kommentaren auf anderen Seiten habe ich bereits gelesen, dass am Ende dieses Artikels etwas fehlt: dass man nämlich Fritz Kuhn nur wählt, um Sebastian Turner zu verhindern. Ich gebe hier aber keine Wahlempfehlungen ab, das muss schon jeder mit sich selbst ausmachen. Wie gesagt, ich wollte lediglich auf ein paar Fakten hinweisen.

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